(A neighbourhood romance)

A neighbourhood romance

Als aktivistisches Kollektiv, das immer wieder implizit und explizit mit und im Raum “Nachbarschaft” agiert, wollen wir uns mit veralteten und romantisierten Vorstellungen von Nachbarschaft auseinandersetzen – und stellen fest, wie tief wir von ihnen geprägt sind. Eine Annäherung.

von Alina Schütze, Franziska Bittner, Gunnar Grandel

Projektbeschreibung: A neighbourhood romance

Nachbarschaft hat eine lange Tradition des Totsagens und der Wiederaufstehung. Von unterschiedlichsten Akteur*innen werden immer wieder Bilder von Nachbarschaft aufgegriffen und reproduziert, die mit Erwartungen überladen sind. So beobachten wir ein Verständnis von Nachbarschaft als „Wert an sich“, der kaum infrage gestellt wird. Nachbarschaften faszinieren uns – so sehr, dass wir Preise dafür verleihen und uns analog und digital (z.B. über Online-Plattformen) ständig darauf beziehen und nicht zuletzt große Fördermittelprogramme darauf ausgelegt werden. Aber was ist gute Nachbarschaft und wohin führt uns etwa das romantische Bild, mit performativen und baulichen Interventionen Räume für „die Nachbarschaft“ zu schaffen?

Jenes romantische Bild und die vermeintliche Planbarkeit von Nachbarschaft führt zur Reproduktion von vereinfachten, normativen und nicht-diversen Nachbarschaftsvorstellungen. Symbolische Repräsentationen von privilegierten, meist weißen Gemeinschaften (z.B. in Form von Placemaking-Prozessen) dominieren häufig den nachbarschaftlichen Diskurs. So werden innerhalb eines gut gemeinten Nachbarschaftsverständnis Machtasymmetrien reproduziert.

Zudem vergisst man vor lauter Nachbarschaftseuphorie gern mal ein paar kritische Aspekte: “Gute Nachbarschaft” wird als immobilienwirtschaftliche Ressource vereinnahmt, die Förderung der Nachbarschaftshilfe dient als Möglichkeit, den Sozialstaat weiter zu dezentralisieren und zurückzufahren (“Community-Kapitalismus”). Nicht zuletzt bleiben Ansätze auf Nachbarschaftsebene häufig in der Symptombekämpfung gesamtgesellschaftlicher Probleme gefangen.

Dies bedeutet nicht, dass wir “Nachbarschaft” als Begriff und Kategorie ablehnen. Im Gegenteil: Es bedeutet, dass wir als Kollektiv einen reflektierten Zugang zu Nachbarschaft finden müssen. Vereinfachende Vorstellungen davon, was eine Nachbarschaft zur Nachbarschaft macht, wollen wir bewusst ablegen und ein emanzipatorisches Verständnis des Begriffs entwickeln.

Collage: Isabel Apel

Umrisse einer “Progressiven Nachbarschaft”

Für unsere Ausstellung „Progressive Nachbarschaft? Forschung abseits von Nachbarschaft als Wert an sich“ im MAGAZIN in Wien haben wir unsere eigenen Überzeugungen in einem künstlerisch-wissenschaftlichen Experiment auf die Probe gestellt. Wir machten uns auf die Suche nach progressiven Eigenschaften von Nachbarschaft, nach subjektiven, zukunftsgewandten und emanzipatorischen Aspekten des Konstrukts. Was macht eine progressive Nachbarschaft aus? Raumstationäre Forschungsgruppen in Berlin, Zürich und Wien entwickelten unter strenger Geheimhaltung hochmoderne Forschungsgeräte dafür. Im Labor entstanden aus ihren Messergebnissen Exktrakte progressiver Nachbarschaft, die wir in der Ausstellung zur Diskussion stellten.

Die Ausstellung thematisiert dafür etwa die Wichtigkeit von Safe(r) Spaces und den Platz für Persönliches in Nachbarschaften, den Wert von Koexistenz und heterogenen Nutzungen, inwiefern geteilte Infrastrukturen und reproduktive Arbeit Teil davon sein sollten und warum es immer Raum für Aushandlung geben muss, um sich mit dem abstrakten Raum Nachbarschaft zu identifizieren.

Mit dem kollektiv-internen Forschungsprozess, Gesprächen mit Besucher*innen, Diskussionen im Rahmen der Ausstellung – z.B. mit Architektin Gabu Heindl – lösen wir uns Schritt für Schritt vom wackligen Fundament dieser Nachbarschaft-als-Wert-an-sich. Wir nehmen Abschied von der Nachbarschaft als Singular, hin zu vielen Nachbarschaftsvorstellungen, die so heterogen sind wie die gelebten Nachbarschaften und ihre Bewohner*innen. Wir gehen so weit zu behaupten, dass das eigentliche Fundament von Nachbarschaft gerade die Abwesenheit eines Konsens darüber ist, was Nachbarschaft bedeutet – und so Nachbarschaft immer in einem Zustand des dauerhaft ungelösten Konflikts entsteht.

Konfliktive Nachbarschaften

Die Ausstellung im Magazin knüpft damit an vorherige Auseinandersetzungen mit Nachbarschaft innerhalb des Kollektivs an: Zwei Berliner Raumstationärinnen forschten zuvor zu konfliktiven Nachbarschaften.

Mit kritischen Kartierungen von Konflikträumen an drei nachbarschaftlichen Orten im Neuköllner Schillerkiez wurde erarbeitet, inwiefern die idealisierten, dem Begriff Nachbarschaft häufig zugeschriebenen Werte von gemeinsamer Identifikation und Konsens nicht nur verklärend, sondern auch problematisch werden können. Grundlegende These ist, dass sich das sozialräumliche Konstrukt Nachbarschaft nicht nur über Gemeinsames und Geteiltes konstituiert, sondern auch über Dissens und Konflikt. Der Konflikt ist dabei kein Defizit, sondern konstitutiv und in manchen Fällen sogar produktiv für eine kritische sozialräumliche (Re-)Produktion von urbanen Nachbarschaften. Durch konfliktive Ansprüche an Nachbarschaft wird der geteilte Ressourcenraum erst wahrnehmbar und bringt weitere Positionierungen zu diesem mit sich – manche Raumaneignungen werden sogar erst über konfliktive Verhandlung ermöglicht. Auf dieser Basis wurde für das MAGAZIN das Forschungsgerät „Nachbarschaftliches Kartierungslabor“ entwickelt, welches diese Aushandlungen, Konflikte und Machtpositionen in den Blick nimmt.

Das Problem ist demnach nicht der Konflikt selbst, sondern dass das Spielfeld der Verhandlungen allzu oft in Schieflage gerät, wenn z.B. große Immobilienkonzerne Nachbarschaften vereinnahmen. Urbane Nachbarschaften sind lokale Schauplätze globaler sowie kleinmaßstäblicher Konflikte von Mieter*innenkampf bis Lautstärkebeschwerde – und daher auch alltägliche Auseinandersetzungs- und Verhandlungsorte für die ganz großen Themen. Was hier erkämpft wird, hat oft translokale Relevanz.

Subjektive Teilnachbarschaften statt universeller Definitionsversuche: Nachbarschaft diskutieren, verwerfen und neu formulieren

Wir wollen auf diese Kämpfe aufmerksam machen und sie vor allen Dingen sichtbar machen – in Kartierungen, auf Spaziergängen, in interaktiven Ausstellungen oder Audiowalks. Wir wollen ein Nachbarschaftsverständnis prägen, das einschließt statt auszuschließen, Widersprüche und unterschiedliche Raumansprüche aushält und nicht immer kongruent sein muss. Wir konzentrieren uns in unserer Arbeit immer wieder auf neue subjektive (Teil-)Nachbarschaften, anstatt uns mit vermeintlich universellen Definitionen des Begriffs aufzuhalten – und halten das Brennglas auf die ungleichen Machtdynamiken.

Als Kollektiv mit Privilegien (ziemlich weiß, ziemlich akademisch, usw.) ist es aber klar, dass wir keine abschließende Definition über Nachbarschaft vornehmen wollen. Durch die Ausstellung im MAGAZIN und die wiederkehrenden diversen Berührungspunkte mit dem Thema, mischen wir uns weiter in die Debatte ein. Dabei hören wir nicht auf, unsere Überzeugungen in Frage zu stellen. Nachbarschaft darf und soll immer wieder aufs Neue diskutiert, verworfen und neu formuliert werden.

Die Romanze geht weiter – 2021 mit einem feministischen Fokus und der Frage, welche Rolle Care für Nachbarschaften spielt und spielen könnte.

Details

Autor*innen

  • Alina Schütze
  • Franziska Bittner
  • Gunnar Grandel