(Die Apolda-Formel)

Die Apolda-Formel

Auf der Suche nach Selbstorganisations- und Solidaritätsstrukturen im ländlich geprägten Raum von Thüringen: Eine Forschungscrew unter Leitung des Kollektivs Raumstation machte sich im Sommer 2019 auf die Reise ins „Hotel Egon“ im Industriedenkmal Eiermann-Bau in Apolda.

von Vanessa Engelmann, Zita Seichter

Projektbeschreibung: Die Apolda-Formel

Der Himmel klärt sich und Sonnenstrahlen brechen durch die Wolken. Vom Deck aus können wir immer klarere Konturen am Horizont ausmachen: Apolda, Stadt im ländlichen Raum Thüringens.

Koordinaten

Nun liegt er vor uns, der Ort, den der Kybernetiker Hans Müller vor fast 60 Jahren bereiste und dabei auf Außergewöhnliches stieß: hier soll es also Anhaltspunkte zur Umsetzung einer nachhaltigen Selbstorganisation geben, der – wie Hans Müller sie nannte – Apolda-Formel. Leider waren seine Aufzeichnungen zu lückenhaft, zu schlecht erhalten, um die Formel nachvollziehen zu können. Wir mussten der Sache selbst vor Ort mit unserer Crew auf den Grund gehen. Vor einigen Wochen sind wir mit unserem Forschungsschiff der MS EGON in See gestochen, haben Wind und Wellen getrotzt. Nun können wir endlich an Land gehen und mit den hier ansässigen Expert*innen der Selbstorganisation sprechen, die sich bereit erklärt haben, mit uns gemeinsam aus ihrer Praxis heraus die Formel zu rekonstruieren.

Das Projekt „Apolda Voraus“ entstand in Kooperation mit der IBA Thüringen, die bereits seit 2013 mit dem zentralen Leitthema STADTLAND unterschiedliche Projekte im ländlichen Raum Thüringens anstößt. Der Eiermannbau in Apolda spielt hierbei als Industriedenkmal eine wichtige Rolle. Ursprünglich vom Architekten Egon Eiermann als Weberei geplant, beherbergte das Gebäude zwischenzeitlich eine Fabrik für Feuerlöschgeräte, bis es ab 1994 weitestgehend ungenutzt blieb. 2018 begann die IBA im Rahmen der Projektförderung das leerstehende Industriedenkmal als OPEN FACTORY wieder in Stand zu setzen und als Raum des Austauschs und der Diskussion zu entwickeln. Hierfür fand im Sommer 2018 eine Summer School statt, in deren Rahmen an einer Infrastruktur gearbeitet wurde, um den weitläufigen Eiermannbau temporär als Hotel nutzen zu können.

Im Sommer 2019 entstand im ehemaligen Industriebau das Hotel Egon, in dem Gäste und Besucher*innen der IBA-Ausstellung “StadtLand” kostenlos übernachten konnten. Stattdessen konnte sich je nach individuellem Interesse und Können in den Hotelbetrieb eingebracht werden. Als eines von vier Kollektiven wurden wir gemeinsam mit Teleinternetcafé, ON/OFF und StadtRaumWandel eingeladen. Gemeinsam schufen wir einen Rahmen für den Hotelbetrieb, den jedes Kollektiv selbst für 10 Tage übernahm und in diesem Zeitraum das Gebäude bespielte.

Uns als Kollektiv erschien es besonders reizvoll, in diesem Rahmen unsere eigenen Fragestellungen an die spezifischen Formationen Apoldas herantragen zu können: Welche Formen von Selbstorganisation finden sich in Apolda? Welche historischen Dimensionen bergen sie? Lassen sich ortsspezifische Faktoren der Selbstorganisation herausarbeiten? Und inwiefern könnten diese wiederum in anderen ländlich geprägten Städten wirksam werden? Schnell entstand die Idee zur fiktiven Geschichte der Apolda-Formel und der dazugehörigen Forschung, die wir vor Ort mit unseren Gästen durchführen wollten. So geschah es, dass wir uns auf die Suche nach zukunftsfähigen Alltagspraktiken, Selbstorganisations- und Solidaritätsstrukturen begaben. Wir vermuteten, dass eben diese Praktiken und Strukturen es ermöglichen trotz vieler Herausforderungen ein gutes Leben führen zu können.

Unsere erste Matrosin stellt ihr Knotenwissen unter Beweis und ankert unser Schiff im Hafen von Apolda. Gekonnt hisst die nächste Matrosin am großen Mast die Flagge der MS Egon, unter der wir gemeinsam in See stechen. In der Kombüse tüfteln unsere Smutjesan fantasievollen Rezepten, die die hungrigeBesatzung zum Ende des rauen Tages im großen Salon zusammenkommen lassen. Im gläsernen Forschungslabor, dem “Aquarium”, schrauben wir gemeinsam den Navigationstisch zusammen. Die eine baut die Unterkonstruktion, der andere bringt die Messmaterialien herbei, andere entziffern die große Seekarte. Gemeinsam wollen wir herausfinden, wo wir uns gerade befinden und wohin der Kurs geht.

Auf See

In die thüringische Kleinstadt Apolda gelangten wir nicht zufällig. 2013 haben wir die Raumstation in Weimar gegründet. Raumstation heißt für uns: Wir sind viele und wir bringen vieles mit. Jede*r für sich eine Besonderheit, gute Ideen, fragwürdige Ideen, wandelbare Überzeugungen, hingebungsvolle Handlungen, überflüssige wie unüberflüssige Talente. So kennen wir uns, teils seit Langem, teils erst seit der Ankunft an Bord. Lernen uns immer mehr kennen und schätzen einander. Wir sind ein Kollektiv:. Jede*r arbeitet für sich und alle gemeinsam. Wir verfolgen Ideen und verwerfen sie wieder. Ein Durcheinander von geteilten, ausgesprochenen wie unausgesprochenen Visionen und Gedanken sowie gegenseitiger Anerkennungen bringt uns zusammen.  Momente, die zu Erfahrungen werden und verankert in unseren Erinnerungen und unser Handeln  weiter begleiten.

Seit der Gründung in Weimar verbindet uns der Bezug zu diesem Ort und seiner umliegenden  Region mit ihren größeren und kleineren Städten, Dörfern und Landschaften. Dorthin zog es uns an den Wochenenden für erkundende Ausflüge. Apolda liegt nur wenige Kilometer von Weimar entfernt und unser urbanistisches Interesse führte uns auch in diese thüringische Kleinstadt; ihre soziale und bauliche Struktur verstehen wollend oder auch einfach zum Besuch des bekannten Eiermann-Baus oder auf einen Espresso am Marktplatz. Heute ist unser Netzwerk gewachsen und unsere Raumschiffe sind auch in Berlin, Wien, Zürich und Brüssel angedockt. So stoßen Menschen aus anderen Kontexten zu uns, wirbeln alles auf, stellen in Frage und ergänzen unsere Erfahrungsschätze. Unsere Bezüge zu ländlich geprägten Räumen bleiben jedoch bestehen. Deshalb konzipierten wir „Apolda Voraus“ als „galaktisches Projekt“ aller Raumschiffe und erprobten neue Sphären unserer kollektiven Zusammenarbeit. Wichtige Jahre in Thüringen gemeinsam verbracht zu haben prägt das Verständnis von Raum von vielen von uns und machte „Apolda Voraus“ zu einem gemeinschaftlichen Herzensprojekt.

Die Gischt spritzt unablässig gegen den Bug,als wir über den Navigationstisch gebeugt die Puzzleteile zu einem Bild zusammen setzen. Das Tagebuch von Hans Müller zur Apolda-Formel liegt zerknittert neben dem Tisch. Wir versuchen aus seinen kryptischen Notizen schlau zu werden. Auch unseren Gästen mit meisterhaften Deduktionsfähigkeiten rauchen die Köpfe unter Deck.Wir schieben die einzelnen Hinweise unserer Gesprächspartner*innen hin und her. Endlich wollen wir herausfinden, welchen Kurs wir einschlagen müssen, um dem Geheimnis der Selbstorganisation in Apolda auf die Spur zu kommen. Da erlöst uns vorerst das schrille Läuten der Schiffsglocke: unsere Co-Matros*innen haben liebevoll gekocht und bitten zu Tisch.

An Bord

Während unserer Zeit im Hotel Egon ging es ums gemeinschaftliche Selbermachen und Selberweitermachen. In Koordination mit den drei anderen beteiligten Kollektiven aktivierten wir die Grundinfrastruktur für das Hotel:. Wir arbeiteten dabei an der digitalen Infrastruktur, einer Website mit Buchungssystem für die kostenlosen Aufenthalte. StadtRaumWandel steuerte das Grafikdesign bei. Teleinternetcafé und ON/OFF kümmerten sich um die Vervollständigung der physischen Infrastruktur: Ein Teil der Einrichtung – wie Küche, Bar, Tresen, Tische, Betten, – war bei den vorhergehenden IBA-Projekten entstanden und konnte übernommen und erneut genutzt werden.

Nun hieß es neben der Projektarbeit – oder hauptsächlich? – den Hotelbetrieb am Laufen zu halten: Gästeempfang, Verpflegung, Programmgestaltung. Unterkunft und Verpflegung gegen ein, zwei, drei helfende Hände, einen Kuchen, Musik.

Jeden Morgen nach dem Frühstück wurden die Aufgaben verteilt. Wir tauschten uns aus, hörten einander zu und entschieden gemeinsam und solidarisch, wer an diesem Tag Kapitän*in wird und wer das Deck schrubbt, wer Logbuch schreibt und wer für die Bar verantwortlich ist, das Getränk des Tages kreiert und dafür einkauft. Von Maat bis Steuermensch rotierten die Aufgaben zwischen uns und den Gästen. Jede*r probierte sich aus, jede Rolle auf unserem Schiff durfte übernommen und neu erfunden werden. Die einen kreierten fantasievolle Brotauftrichvariationen für die gesamte Besatzung; die anderen begaben sich mit dem Lastenrad in die Apoldaer Meerestiefen des Einzelhandels und versorgten die Kombüse mit Köstlichkeiten. Und so manches Raumstationsmitglied auf der Durchreise kam spontan rübergepaddelt, um in der Kombüse zu helfen, die Segel zu flicken oder einfach an die Reling gelehnt zu klönen. In dieser Zeit wurden wir (erneut)  zu einer Gemeinschaft, lernten einander weiter kennen, unterstützten uns gegenseitig, gaben einander Kritik, lachten viel und stritten auch. Wir teilten Momente miteinander, ob in der Zusammenarbeit an der Formel, beim Entschuppen des frischen Kartoffelfangs, gemeinsamen Stunden in der Spühlküche oder dem Sternschnuppenschauen in einer warmen Augustnacht.

So entwickelten wir unsere Routinen, die elastisch genug waren,  immer wieder aufgebrochen und umorganisiert zu werden und gleichsam auf die sich ständig wandelnde Crew zu reagieren und neue Gäste direkt mitzunehmen. Die Bar an Deck wurde zum Ort des Zusammenkommens und des Austauschs: Für die Raumstation und die IBA. Für Dauer- wie für Tagesgäste. Für Gäste aus Apolda. Für Bands. Und nicht zuletzt für unseren Abschlussabend, an dem wir endlich unsere am Navigationstisch zusammengetragenen Forschungsergebnisse zur Apoldaformel teilen konnten.

Grafik: Julia Oppenauer

Am letzten Abend liegt das Schiff hell erleuchtet über dem Meer der Stadt. Matros*innen, Bewohner*innen von Apolda, Gäste aus weiter Ferne: Alle sind gekommen. Sie bringen glitzerndes Konfetti, grün-blaue Lichterketten und maritime Getränke. Klänge des Apoldaer Ensembles umgeben uns und werden sanft über die Dächer der Häuser hinweg getragen: ein Fest, um die entschlüsselte Apolda Formel zu feiern.

An Land

Vor unserer Ankunft in Apolda wussten wir: Diese Stadt im ländlichen Raum Mittelthüringens war ehemals eine Hochburg der Glocken- und Textilproduktion. Bis heute ist sie geprägt von der Arbeiter*innenbewegung des frühen 20. Jahrhunderts und  zu DDR-Zeiten war sie ebenfalls ein wichtiger Wirtschafts- und Industriestandort. Wir wussten auch vomeinschneidenden Ereignis der Wende. Für viele Bewohner*innen bedeutete sie essentielle biografische Umbrüche   – eine scheinbare politische Stunde 0 der Demokratie, Verlust von Arbeitsplätzen,Verschiebungen im kulturellen und sozialen Leben. Der bis heute andauernde Strukturwandel veränderte die Stadt und erschwert Initiativen, die Zukunft der Stadt mitzugestalten. Hier sollte also die Apolda-Formel zu finden sein?

Die täglichen Treffen mit ganz unterschiedlich engagierten Akteur*innen halfen uns, die Variablen der Formel Stück für Stück zu rekonstruieren – und sie letztendlich zusammenzufügen. Das Spektrum unserer Gesprächspartner*innen erstreckte sich von Kunst und Kultur Wirtschaft bis zu Pädagogik, sodass wir unterschiedliche Perspektiven der Selbstorganisation in Apolda kennenlernen konnten: Die Kulturfabrik, ein Ausstellungs- und Atelierhaus in einer ehemaligen Textilfabrik, kooperiert mit internationalen Künstler*innen und Student*innen der nahe gelegenen Kunsthochschulen in Weimar, Halle oder Leipzig. Die geographische Lage Apoldas – aber auch der Preisdruck in den anderen Städten – ermöglicht diese überregionalen Kooperationen. Auch das Apoldaer Amateurtheater ist in seinen räumlichen Zusammenhang zu sehen: So gefielen vielen Besucher*innen gerade die eher konservativen Inszenierungen, die sich so vom experimentellerem Stil etwa des Deutschen Nationaltheaters in Weimar absetzten. Doch ebenso ist die starke Eingebundenheit vor Ort in Apolda wichtiger Bestandteil des Amateurtheaters: In den letzten Jahren kooperierten sie mit dem “Prager Haus e. V. – Gedenk- und Erinnerungsort für jüdisches Leben in Thüringen” oder mit dem Glockenstadtmuseum. Dieses Museum beherbergt neben der Dauerausstellung auch soziokulturelle Bürger*inneninitiativen und ruft immer wieder Aktionen ins Leben, in denen die Bewohner*innen die Erinnerungskultur der Stadt aktiv mitgestalten können. Weiterhin erscheint die ortseigene Energieversorgung Apolda (EVA) als wichtige Akteurin im städtischen Geflecht: sie unterstützt lokale Sportvereine und das Freibad finanziell und ist selbst in der Nachwendezeit in einem Prozess der Selbstorganisation mit dem Wunsch der Erhaltung der innerstädtischen Autonomie angesichts der sich radikal wandelnden Wirtschaft entstanden. Die Wende stellt auch für den 1896 gegründeten Familienbetrieb StrickChick einen Umbruch in der Firmengeschichte dar: Durch die Reprivatisierung des Textilunternehmens und der darauffolgenden Positionierung im Nischenbereich versucht die Fabrik den Balanceakt zwischen globalisierter kapitalistischer Marktlogik und lokalen Dynamiken – bisher weitgehend erfolgreich. Schließlich versucht die private evangelische Grundschule, durch ihr Engagement die Bildungslandschaft Apoldas zu bereichern. Ein wichtiger Bestandteil ihres reformpädagogischen Konzepts ist ihr Schulgarten, der sich inmitten einer Schrebergartenanlage befindet und so den direkten Austausch mit den umliegenden Gärtner*innen ermöglicht.

Die Gespräche mit den vielfältigen Akteur*innen zeigten uns unterschiedliche Facetten und Dimensionen  der institutionellen, finanziellen, sozialen und vor allem lokalen Faktoren von Selbstorganisation und Praktiken der Selbstermächtigung.  Sie können als als Reaktionen auf einen radikalen Wandel auftreten, auf nicht befriedigte Bedürfnisse reagieren, regionale und überregionale Synergien stiften oder als Impulsgeber*innen für städtische Prozesse dienen. In manchen Fällen erscheinen sie als einzige Möglichkeit, um angesichts äußerer Entwicklungen, die selbst oftmals schwer zu beeinflussen sind, handlungsfähig zu bleiben. Im Laufe unserer Nachforschungen entstand ein Bild Apoldas, das geprägt ist von Alltagspraktiken der Selbstorganisation. Hieraus setzte sich nach und nach die Apolda-Formel zusammen. Uns wurde klar: ländlich geprägter Raum und seine Städte brauchen Selbstorganisations- und Solidaritätsstrukturen. Lokale Wissens- und Solidaritätsnetzwerke waren entscheidend für alle von uns besuchten Einrichtungen, um den strukturellen Herausforderungen zu begegnen. Wie sich diese genau ausgestalten, hängt aber wiederum von lokalspezifischen Herausforderungen, Faktoren und Akteur*innen ab.  Die Apolda-Formel liefert hier wichtige Koordinaten, von denen aus zukünftige Kartographien zur Selbstermächtigung innerhalb eines Stadt-Land-Gefüges entworfen werden können.  Und ebenso auch für unsere Arbeit als Kollektiv.

Zukunft ahoi!

Details

Autor*innen

  • Vanessa Engelmann
  • Zita Seichter